Die Arbeit untersucht ein zentrales und umfängliches Corpus spätmittelalterlicher Geschichtsdichtungen vom 14. Jahrhundert bis zur Reformation, das bis heute im toten Winkel der Geschichtswissenschaft, Publizistik und Germanistik liegt und seit 150 Jahren unter dem irreführenden Terminus 'historische Volkslieder' firmiert. Nach einer grundlegenden Revision der Texte und der Beobachtung ihrer situativen Anbindung an ein historisches Ereignis wird der Nachweis geführt, daß sinnvoll von einer eigenen Gattung auszugehen ist, die sich durch eine zweckgebundene Ästhetik, spezifische Funktionen und einen hohen Grad an Publizität auszeichnet: die historisch-politische Ereignisdichtung. Warum die propagandistischen Lieder und Reimreden zur Tagespolitik von der Forschung so konsequent ignoriert wurden, ist umso unverständlicher als diese Vernachlässigung in krassem Gegensatz steht zu dem breiten Interesse, das die spätmittelalterliche Gesellschaft an ihnen genommen hat. Übersehen worden ist bislang auch, daß schon so früh - z. T. noch vor den neuen Publikationsmöglichkeiten im Medium des Buchdrucks - an der Konstitution von Öffentlichkeit und öffentlicher Meinung gearbeitet wurde, Kategorien, die man immer genuin neuzeitlich definiert hat. Der spezifische Reiz dieser poetischen Manifestationen der politischen Publizistik liegt in ihrem Zeugnischarakter für die Mentalitätsgeschichte. Die von den Verfassern getroffene Wahl des aktuellen Ereignisses, ihre aggressiv polemische oder eher vorsichtig insinuierende Präsentation und die explizite Wendung an ein informiertes und hochmotiviertes Publikum gewähren Einblicke in politische Ansichten, soziale Empfindlichkeiten, Existenzängste und Glaubensnöte des spätmittelalterlichen Menschen wie kaum eine andere literarische Form oder historische Quelle der Zeit.
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